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es war einmal...

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Nemain Naraikina schrieb am 23-11-2003 23:43:49 : "Gebrochene Flügel, gebrochene Träume, gebrochenes Herz" - Kapitel 11

Ein mit Metallplatten vertäfelter Gang liegt vor mir, ich muss wohl gerade durch die Tür in meinem Rücken getreten sein. Was liegt dahinter? Ich weiß es nicht mehr. Es scheint mir, als wäre ich bereits vor einer kleinen Ewigkeit durch die Tür gekommen, aber das kann nicht sein. Vielleicht liegt der Ort meiner Gefangenschaft dahinter, die gepolsterte Sanatoriumszelle? Ich habe kein Interesse daran, es heraus zu finden. Das Licht auf dem Flur ist gedämpft, so wie man es von Unterkünften für Reisende auf einer Raumstation kennt, wenn die dort niemals eintretende Nacht simuliert wird.

Wo bin ich hier? Hat mich jemand befreit? Wer? Und wo ist er? … Wer bin ich selbst?
Nemain Naraikina. Das ist mein Name. Und was bedeutet das? Ich weiß es nicht. Nach einem Anhaltspunkt betreffend meine Identität suchend blicke ich an mir herunter. Ich trage eine Uniform. Meine Uniform. Blau. Nemain beginnt zu lachen. Ja blau. BLAU! Das ist blau!
Eine blaue Uniform ist eigentlich nichts Besonderes. Für jemanden der sich aus seiner Vergangenheit gerade so an seinen Namen und wie man Besteck hält erinnert, und der bei ihrem Anblick bemerkt, dass es seine wie immer blaue Uniform ist aber schon. Zu welcher Tätigkeit er sie immer getragen hatte war ihm noch unklar, es war eine Phantasieuniform, orientiert am Schnitt des novarischen Militärs, sie hatte ihm immer ein gewisses Gefühl der Überlegenheit vermittelt solange Nemain sie trug. Grenzenlose Euphorie beflügelte ihn – er hielt ein Stückchen seiner gesplitterten Identität in Händen, für Kommandant Naraikina fast ein Wunder. Aber auch ein Fluch: Jetzt wollte er mehr wissen. Sofort.

Die Wahrnehmung eines leisen Weinens weckte seine Aufmerksamkeit, hielt ihn davon ab, die Uniformtaschen zu durchsuchen. Vielleicht konnte Nemain an der Quelle des Tränenflusses herausfinden, wer und wie ihn aus seiner Zelle befreit hatte, unsicher bewegte der junge Pirat seine Füße über den Gangboden auf eine spaltbreit offen stehende Tür zu, nur wenige Meter vor ihm. Vorsichtig, geräuschlos öffnete der geübte Verbrecher den Eingang zu einem Einzelschlafraum bis er den Ursprung des Schluchzens sehen konnte. Auf einem braunledernen Sessel entdeckte er eine kleine fragil gebaute Frau, Sie blickte weinend durch ein Fenster nach draußen in die Weiten des Alls, schien gedankenverloren. Er befand sich also auf einer Raumstation. Welche? Nicht zu erkennen. Das war die blondhaarige Frau, die ihm erklärt hatte was Freiheit bedeutet. Nur konnte man Sie heute deutlich erkennen, Sie war noch ein blutjunges Mädchen. Logisch, damals war Sie ja auch nur ein Schatten in einem Erinnerungsfetzen gewesen, jetzt war Sie real. Dachte Nemain. Leider falsch.
Nemain wusste auch nicht, dass die Beobachtete gerade ihren eigenen inneren Kampf austrug, nein, er wusste es schon, erinnerte sich nur nicht, kam nicht einmal auf ihren Namen, obwohl er fest in sein Herz eingebrannt sein müßte.

Sie hatte kaum mehr als eine Stunde geschlafen, wurde einmal wieder von den düsteren immer wieder kehrenden Alpträumen aus dem Schlaf gerissen, bebte vor Aggression, fand keinen Schlaf mehr, erinnerte sich an ihre Vergangenheit, an den Schmerz, wurde noch zorniger, gab allen und jedem die Schuld daran, zitterte, fand keinen ruhigen Gedanken, ergriff eine gläserne Vase und zertrümmerte sie an der nächsten Wand. Nemain verstand überhaupt nichts. Hatte das Mädchen ihn gefangen nehmen, seinen Geist manipulieren lassen? Unwahrscheinlich. In seiner erschreckend kleinen Sammlung aus Erinnerungsbruchstücken fand der Raumpirat nur positive Eindrücke zu ihrer Person.

"Zerbrochen“, sagte das Kind, "wunderschön und gläsern, deshalb leicht zerbrechlich und deshalb zerbrochen. Wie mein zartes Herz."

Was geschieht hier? Nemain träumt, schwimmt in seiner Erinnerung. Das alles hat er bereits erlebt, vor knapp drei Jahren. Doch sein Bewusstsein registriert dies nicht. Sein zerfressener Geist hat alles verdrängt, verschoben, kann seine eigene Erinnerung nicht mehr kontrollieren. Und so ist es für ihn Realität, im hier und jetzt. Was mag wohl geschehen, wenn er während des Durchlebens dieser Pseudorealität die Erinnerung zurückgewinnt, die ihm zuflüstert, dass die kleine gerade Trauernde lange tot ist? Wie reagiert ein Mensch der bemerkt, dass sein Gegenüber ein Geist seiner Vergangenheit ist? Und wie ein Mensch der völlig alleine und verloren ist, wenn er registriert, dass sein Wirklichkeitsanker ein Schatten aus seinen Träumen ist? Bleibt noch die Hoffnung auf eine positive Auswirkung des Traums.

Langsam erhob sich Nemain`s Jugendliebe von ihrem Sessel und trat zu den auf dem Boden verteilten Scherben der Vase, blickte auf sie herab. Ob er Sie wohl bald erkennen würde?
„Scherben“, sagte Jamila, „Zerbrochen in tausende Scherben.“
Gerade als wäre es Bestandteil eines feststehenden Programmablaufs erwiderte ihr Beobachter: „So wie deine Träume?“, offenbarte damit seine Anwesenheit.
Erschrocken über dies unerwartete verbale Eingreifen ihrer Umwelt in ihre Depression fuhr das Mädchen zur Zimmertür herum, statt jedoch in Panik ob des Eindringens eines Fremden zu verfallen, entglitt ihr die Ahnung eines Lächelns – die Anwesenheit von Nemain schien ihr nicht ungewöhnlich zu sein, allerdings presste ihr Seinszustand die aufgeflammte Freude über sein „Dasein“ leicht zu Boden, die Melancholie war einfach stärker.

„Woher weißt du das?“
Auf ihrem Weg zurück zu dem Sessel trat Jamila in einige der Scherben, doch gab keinen Laut von sich, gerade so als ob Sie es garnicht bemerkt hätte. Nemain dachte jetzt nicht mehr darüber nach, ob er frei sei, fragte sich nicht mehr wo er war, verschmolz mit dem zu Sehenden, sein vollends verirrtes Bewusstsein formte Traum und Realität zu einer Einheit statt den Traum als solchen zu identifizieren, ließ ihn dieselben Worte sprechen wie damals.
„Unzählige Gläser verwandelten sich durch meine Hände in ein Meer aus Scherben.
Ich weiß nur zu gut was man denkt wenn man auf dieses Scherbenmeer herabblickt, wie sich die Scherben deiner verlorenen Träume vor dir ausbreiten. Du hast doch eben schon geschlafen, hat das Knistern dich wieder wachgerufen? Ich habe die Flammen heute Abend auch schreien hören.“ Welche Flammen? Wovon sprach er? Kommandant Naraikina konnte es nicht bestimmen.

Jamila nickte zart. „Es ist gut dass du da bist.“ Sie lächelte müde, „seit Rao mich verlassen hat war ich soo lange soo allein, umgeben von Menschen die sich meine Freunde nannten, aber nie da waren wenn ich weinen mußte. Wie alt bist du eigentlich Nemain? Das habe ich dich noch nie gefragt...“ Die Vierzehnjährige rutschte auf die breite Lehne des Sessels damit Nemain auch sitzen konnte, forderte ihn per Handbewegung auf, eben dies auch zu tun. Wer war jetzt schon wieder dieser Rao? Mentales Schulterzucken. Der Name kam ihm sehr bekannt vor, doch auch hier war er zur Zeit nicht in der Lage die Verbindung freizulegen.
„Siebzehn.“ Wie eine Lawine – nicht aus Schnee, aus Bildern – rollte in diesem Moment Jamila`s Schicksal über ihn, mit präziser Perversion faltete sich ein großer Brocken Erinnerung vor seinem inneren Auge auf, sein Gesicht fiel in einen düsteren Blick.

„Als ich so alt war wie du ging es mir noch wunderbar, dich haben die Flammen viel früher geholt.“ Jamila ließ ihren Kopf an seine Schulter fallen und schloß die Augen, Sie weinte. Es machte ihn zornig. Das fast jeden Tag mitanzusehen machte ihn wütend, zornig auf jene die ihr das angetan hatten, auf jene die nicht eingegriffen hatten, die gesehen hatten und doch blind schienen. Wie furchtbar mußte es sein mit zehn Jahren solche Qualen zu erleiden, solchen Schmerz zu fühlen wie Jamila es mußte? Fast jeden Tag erlebten die beiden damals das Gleiche, wurden verfolgt von ihren Erinnerungen, den Schmerzen im Geiste, dem Wispern der Flammen, aus den gleichen Umständen erwachsen, ähnliche Geschichten vom Traum glücklicher Jugend erzählt an verschiedenen Orten, zerbrochen und geschändet von verschiedenen Menschen, gesehen von anderen und übersehen, geduldet, toleriert, vergessen.

Traum wird Trauma.

„Sie haben immer alle weggesehen.“, flüsterte Jamila leise.

„Du sprichst aus was ich denke meine Kleine.“

„Weil meine Vergangenheit deine Vergangenheit ist, nur geschehen an einem anderen Ort, weil mein Schicksal dein Schicksal war, herbeigeführt von verschiedenen Umständen, doch ist die Herkunft gleichgültig - am Ende bleibt der Schmerz der immer Gleiche. Wie auch bei den tausend anderen jungen Schicksalen da draußen in der Galaxis. Und alle sehen weg wenn jemand die Träume von uns Kindern tötet.“

Nemain schauderte. Er würde heute Nacht wohl kaum Schlaf finden. Wenn seine verschollene Vergangenheit ähnlich furchtbar war wie die Jamila`s, die er gerade eben wieder zu fassen bekommen hatte in seinem Geist, wollte er die Erinnerung daran überhaupt noch zurückgewinnen? Die Schatten des Vergangenen würden ihn einholen, wollte er wirklich hören, wovon sie flüstern? Sie würden Geschichten erzählen, Geschichten von einst wunderbaren Kinderträumen, heute verzerrt von den dunklen Ereignissen längst verstorbener Tage, verdorben von häßlichen Grimassen aus Leid und Erinnerung. Und dann hörte der Raumpirat sich sprechen, bekam einen Funken Einblick auf das, was er vor seinem Gedächtnisverlust getan haben musste, begann zu ahnen, woher die Todessehnsucht rührte, die zwar sein stetiger Begleiter war, welche er aber aufgrund mangelnder Erinnerung weder zuordnen noch begründen konnte, die sich seit Tagen in einem immensen Freiheitsdrang manifestiert hatte. Nemain suchte die Freiheit zu sterben.

„Und den Schmerz den wir erfahren haben bringen wir ihnen allen zurück, für
das was sie uns angetan haben, die wispernden Flammen leiten uns, wir bringen
den Tod, fiebern damit dem Tod entgegen, beschwören den Tag an dem er kommt um
unsere gebrochenen Seelen zu verschlingen. Er bringt uns unsere Träume zurück,
unsere Träume von Freiheit...“

So war das Bewusstsein also träumend zu Besuch im Garten der Erinnerung, schwamm ein paar Runden in ihrem reichen Pool (Doppeldeutigkeit engl.!), wurde dann jedoch sanft, aber bestimmt aus dieser Umgebung wieder entfernt, eigentlich ohne es zu wollen folgte es nämlich einer unterschwelligen Forderung, hörte auf einen Ruf, der es aus dem Erinnerungsparadies katapultierte: „Wach auf Nemain! Ich bin keine Realität!“
Das Unterbewusstsein hatte das Rätsel aufgelöst, die Täuschung der Traumwelt war enttarnt. Es sprach durch eine von der Phantasie animierte Jamila zu seinem Bruder Bewusstsein um ihm dies zu verdeutlichen. Würde Nemain die im Paradies geernteten Früchte essen können, wenn er das nächste Mal erwacht?

„NEIN! Jamila! Nicht gehen!“ - Der Wahnsinn nahm ihren Platz ein, Sie war schon lange fort...

upic
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