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es war einmal...

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Nemain Naraikina schrieb am 16-02-2004 14:43:23 : Kapitel XIII: Neun Tage und der Morgen danach
(endlich fertig das neue kapitel! *freu* leider werden manche leute probleme beim lesen haben, die vorkapitel sind einfach zu lange her. das hier nimmt sehr viel Bezug auf die videokonferenz und das traumkapitel mit jamila... naja - ich hoffe ihr habt trotzdem freude daran. aus zeitmangel ohne absatz- und fehlerkorrektur, muss jetzt zur arbeit - cu @all)

Der Wecker hatte nicht geklingelt, keinesfalls. Es gab auch keinen anderen Grund aufzuwachen, trotzdem wachte er auf… fühlte sich aber nicht nach „er“ eher wie „es“. Seinem Zustand entsprechend ungerichtet tastete seine Hand über die Bettablage, fand endlich, nachdem Sie die Bettlampe umgerissen hatte, ein papierdickes Stück Plastik, führte es vor das verblitzte werwolfähnliche Augenpaar. Lesen kann ganz schön anstrengend sein! Da stand:
Girnek Szopko, Id-Nr. 397-104. Das war ein Pflegerausweis, V.i.D.-Sanatorium, Unia, Shurirn. Ich bin Pfleger für Psychopathen, also ein sozial engagierter Mensch, ergo kein diffuses „Etwas“. Wie beruhigend.
Und ich bin zu Hause. Mein Bett.

In seinem Mund regierte ein Geschmack als hätten in der vergangenen Nacht zwei Mundhöhlenkrebse ihre Laichzeit darin verbracht, er fühlte sich, wie schlechter Wein aus einer Pappverpackung sich auf der Zunge eines Genießers anfühlt, dazu war der Zustand seiner Wahrnehmung beeinträchtigt, besser gesagt desolat. Verschwommen und knittrig gebärdete sich seine Umgebung, wirkte wie abgetrennt von ihm, als hätte man des Nachts seine Augäpfel entnommen und sorgsam folienverschweißt.
Nicht zu vergessen: Tomaten! Ja, verdammter Tomatensalat! Jedermann würde jetzt an eine gesunde Mahlzeit denken, in Wahrheit jedoch hatte es am Vorabend kein Essen gegeben, dafür massenweise Vodka mit Pfefferextrakt, sogennanter Tomatensalat, denn es war eben üblich, bevor man den Shot in den Mund kippte, eine Scheibe Tomate mit Salz bestreut auf die Zunge zu legen, um dann eben jene im vodkagefüllten Mund zu zerkauen. Girnek war absolut sicher: wenn man ihm im Laufe der kommenden Woche einen Teller Tomatensalat vorsetzte, der würde spontan vollgekotzt bis zum Tellerrand.

Aufstehen. Zittrig und ungelenk erhob sich die Mensch-Kater-Symbiose über den Bettrahmen, aber erst hatte er sich einem Schmetterling gleich nach seiner Verpuppung aus dem Deckenkokon auswickeln müssen, wer ihn eingedenk der gleichen Metapher beobachtet und danach sein Gesicht betrachtet hätte, wäre wohl eher an eine hässliche Motte erinnert worden. Flügel hat das Ding auch keine, also war es an den wackelig anmutenden Beinen, den alkoholzerfressenen Leib ins Bad zu schleppen. Eine Hand beschäftigte sich unterwegs damit, die heftig pochenden Schläfen zu massieren, die andere war geschäftig dabei, den Mund verschlossen zu halten in dem Versuch, einen Brei von Erbrochenem innerhalb der Mundhöhle zu halten, nach den ersten Schritten nämlich hatte die Bewegung einen Wirbelsturm im Magen ausgelöst, welcher die brockig-saure Flüssigkeit den Hals hinauf eben dorthin verschoben hatte. Und die Wohnung zu putzen war das letzte, worauf Girnek an diesem Morgen Lust verspürte. Die letzten fünf bis zehn Gläser vergangene Nacht waren fraglos zuviel gewesen. Aber geile Party! So etwas hatte Girnek nach seinem Empfinden dringend nötig gehabt, nachdem man ihm in seinem neuen Job gleich nach der ersten Woche die freien Tage gestrichen hatte, statt fünf neun Tage am Stück unter all diesen Hirnkranken, das war einfach zuviel gewesen. Der Pfleger hoffte inständig, durch die gestrige Eskalation in Sachen Alkoholgenuß einiges des Erlebten aus seinem Gehirn gelöscht zu haben, besonders die Vielzahl der Arbeiten an Patient 4807, sonst würde er sicher alsbald ebenfalls einen Zellenplatz beantragen müssen. Zumindest blieben ihm jetzt erstmal zwei freie Tage zur Erholung von Arbeitsstress und Suff.

Außer der Erfassung einiger Eckdaten – einmal Toiletten-Mensch-Fusion im Pobereich, dreimal desgleichen im Kopfbereich, Gesamtdauer der Prozedur rund eine Stunde – wollen wir den Badaufenthalt von Girnek unserer Phantasie überlassen, Sie wird die Situation ausreichend aus dem eigenen Erfahrungsschatz schöpfend bebildern. Sollte dies nicht der Fall sein: Seien Sie froh! Sie haben wirklich nichts verpasst, mit Girnek tauschen würde niemand wollen.

Fast eine Stunde später erst hatte sich sein Befinden im Bereich „gerade so erträglich“ eingependelt, warme bräunliche Flüssigkeit floß zum wiederholten Male die Kehle des Krankenpflegers herunter. Seit Verlassen des Bades war Girnek nicht weit gekommen, ein ungebügeltes Unterhemd und eine hundertprozentig unerotische Unterhose an seinem Körper bildeten in keinster Weise einen Kontrast, weder zu seinem Zustand, noch zu seinem Aussehen. Sitzend, die Ellenbogen auf der verkratzten Küchentischplatte, den Kopf in beide Hände gestützt, vegetierte er dahin, starrend auf den Kaffeebecher. Ab und an schaffte es Girnek sich aufzuraffen und die Kaffeemaschine zu bedienen oder den Becher nachzufüllen, Tasse um Tasse wurde entleert in dem Versuch den polternden Kater in seinem Schädel in der braunen Brühe zu ertränken. Auf der mentalen Ebene tat sich zur gleichen Zeit nicht viel, der Kater und seine Begleiterscheinungen schienen einen Verkehrsstau auf der neuralen Infrastruktur verursacht zu haben. Essen wäre unsinnig. Der im Aufruhr befindliche Magen würde nichts anderes als eine Revolte gegen die eindringende Nahrung ausrufen, Fremde waren im Magenland zu Zeit nicht gern gesehen.

Nach der elften Tasse Kaffee endlich begannen langsam wieder Gedanken zu tröpfeln, allerdings nicht kontrolliert, Bilder, Erinnerungen, Eindrücke, deren Deiche von der Kaffeeflut eingedrückt worden waren. Eine Tür mit der Aufschrift „Supervision“, gelegen in einem langen weißgetünchten Gang. Weiter vorne Zugänge zu Polsterzellen.
Verflucht! Warum ausgerechnet diese Gedanken? Nicht an die Arbeit denken, nicht an die…
Eine Blattsammlung mit Fragen vor den Augen. Ein Raum im Klassenzimmerstil, siebzehn Sitzende, eine Aufsichtsperson. Überschrift: Eignungsprüfung zum Sanatoriumspfleger. Frage eins: Nennen Sie die zu beachtenden Vorschriften beim Betreten einer Polsterzelle mit Besatz eines Patienten im permanenten Wachzustand! (3 Punkte). Leicht! Betreten nur in Begleitung mindestens eines Kollegen, Beruhigungsmittel mitführen, Situation von der Supervision überwachen lassen. Frage zwei…
zu Nemain sind wir immer nur mit drei Pflegern in die Zelle gegangen, auch ohne Weisung von Professor Lacour. Nicht umsonst nennen wir auf der Station „Alptraum“, denn nichts macht uns soviel Angst wie unsere schlimmsten Träume – außer ihm…

Besorgt und verärgert schüttelte Girnek den Kopf.
„Der verdammte Irre hat sich in meinem Schädel festgefressen, es tritt genau die Scheiße ein, die ich befürchtet habe!“
Der Pfleger begann mit seinem Kaffeebecher zu sprechen, vielleicht kommunizierte er auch mit der Wand.
„Was könnte ich tun? Eine Stadas einwerfen?“
Weder Wand noch Tasse äußerten ihre Meinung, hörten aber wenigstens geduldig zu.
„Wird nichts nutzen, damit schiebe ich das Problem nur vor mir her. Wenn der tägliche Dienst beginnt Sie zu belasten, sollten Sie Sport treiben, das hilft den Stress abzubauen. Zusätzlich müssen Sie sich privat intensiv mit der Sie belastenden Situation auseinandersetzen. Weise Ratschläge des psychologischen Beraters während der Pflegerausbildung. Also gut.
Sport? Leck mich! Kein Bock. Aber eventuell hilft es mir wirklich, darüber zu reden. Nur mit wem?“

Im Falle unseres Sanatoriumspflegers nämlich lag ein in der Gesellschaft weit verbreitetes Problem vor, er war nach einem Umzug in der Anonymität der gigantischen modernen Metropole vereinsamt. Keine echten Freunde mehr, nur Arbeitskollegen und flüchtige Zufallsbekanntschaften von Events und Bartourneen. In seiner Not reagierte er absonderlich. Entnommen aus dem Geschirrschrank bildete ein kleiner Teller den Torso für den Becherkopf, zwei Messer spielten Beine und Gabeln wurden zu Armen mit Händen, fertig war der Instantpsychologe. Der auf Dauer nicht wirklich bequeme Küchenstuhl aus Hartplastik war zwar ein schäbiger Ersatz für die sonst typische Couch, musste jedoch ausreichen.
„Nun, Patient 4807 hat meinen Kollegen monatelang Ruhe gelassen, in Apathie gefesselt, jetzt plötzlich aber wacht er öfter auf, ganz unerwartet, ganz grundlos, und beschert uns jede Menge Stress. Warum passsiert das augerechnet nachdem ich neu auf die Station gekommen bin? Seitdem nervt der Prof enorm! Beobachten, untersuchen, beobachten! Pedantisches Arschloch! So wie der sich aufspielt und den Patienten behandelt, Manier „rohes Ei“, scheint Lacour große Pläne mit ihm zu haben. Kleiner Vorteil für mich: anfangs schien der Prof mich nicht sonderlich zu mögen, seit er aber bemerkt hat, wie gewissenhaft ich mich um seinen Nemain kümmere, bin ich ihm wohl doch sympathisch geworden. Tolle Wurst. Die damit einhergehenden Nachteile übertreffen den Vorteil leicht. Der Prof hat mich die letzten drei Schichttage nämlich speziell 4807 zugeordnet, als Sonderpfleger. Ich befürchte das wird sich in Zukunft nicht ändern. Warum ausgerechnet ich? Hätte nicht jemand anderes Käpten Prof`s Liebchen werden können?“
Der letzte Satz klang hoffnungslos, und wurde unterstrichen von einer verzweifelten Geste in Richtung von Professor Doktor Tellerrand, Diplompsychologe im Notdienst. Der mahnte jetzt auch, nicht zu sehr vom Thema abzuschweifen, natürlich nur Kraft der Einbildung seines Gegenübers.

„Jaja, nicht abschweifen, ja! Also, vor knapp zwei Wochen ist 4807 zum ersten Mal aufgewacht, seitdem wiederholt sich das desöfteren. Nie für lange, er fällt immer zurück in den Stupor. Das hatte ich bereits erwähnt nicht wahr? Egal. Auf jeden Fall hat Lacour schon mehrmals versucht Kontakt aufzunehmen, per Audioeinspielung in die Zelle, ich als Spezielpfleger bin ja über alles informiert, ohne Erfolg. Selbst auf Angaben und Details aus dem Leben des Patienten kam keine Resonanz, zumindest nicht verbal. Wir haben das oft wiederholt, denn manchmal konnte man den Eindruck haben, 4807 verstehe schon, was da gesagt wird. Geerntet haben wir allerdings maximal suchende verwirrte Blicke nach dem Erzeuger der eingespielten Worte. Warum widmet sich der Prof gerade diesem fall so intensiv? Letzten Dienstag haben wir, also Lacour und ich, mit Unterstützung eines Arztes aus dem Gammaflügel, dann eine physische Untersuchung der Person angesetzt, falls es noch eine Steigerung von Komplettuntersuchung gibt, haben wir genau das getan. Gehirntomographie, negativ. Die Hoffnung auf baldiges Wegsterben des Patienten aufgrund eines Hirntumors kann ich getrost streichen. Untersuchung auf Fremdkörperbefall, maximale Substanzvariation. Vielleicht unbekannte Viren, Bakterien, die langsam Körper und Gehirn zersetzen? Leider nicht, der Bastard wird sich also keinesfalls alsbald selbst erledigen.

Versucht hat er dies jedoch schon. Die Narben an seinen Handgelenken waren nicht zu übersehen, auch nicht, dass unser Alptraum von Anatomie null Plan hat. Querschnitte! Was für ein dilettantischer Selbstmordversuch, längs muß man schneiden Leute, längs! Das lernen all diese depressiven Deppen nie, was? Doch das Schlimme kommt noch, überall am Objekt haben wir weitere Hautvernarbungen gefunden, die sicher nicht von seiner hand stammen. Lacour hat durchblicken lassen 4807 sei Raumpirat gewesen. Da waren einige helle weiß-rosane Stellen, von tiefgehenden Abschürfungen oder Verbrennungen, und alte Schußwunden! An den Beinen, um die Schultern, im Rücken! Ich will mir gar nicht vorstellen, was der Kerl mit den Leuten gemacht hat, die offensichtlich ohne Erfolg versucht hatten ihn zu ermorden. Den Arzt ließ das alles kalt, Lacour verhielt sich auch eher neugierig, notierte alles akribisch. Es ist dem Professor augenscheinlich sehr wichtig, belegbar festzuhalten, dass der Ursprung der vorliegenden Katatonie nicht physischen Ursprungs ist. Dessen Ruhe möchte ich haben! Ich sorge mich mehr darum, was passiert wenn dieser Hund aufwacht während ich neben ihm stehe! Verfluchte Scheisse, mein Leben läuft erst seit kurzem wieder in einigermassen geordneten Bahnen!“
Girnek barg das Gesicht in den offenen Händen und begann wiederholt mit den Fingerspitzen über seine Stirn zu kratzen, so als wollte er die gerade angesprochenen Erlebnisse aus seinem Kopf herausgraben.

Ich brauche jetzt eine Stange… wo ist der Glimmstengeltransporter? Muss in der Kitteltasche sein, wo sonst? Seinen Psychologen in der Küche zurücklassend schlurfte Girnek los, fand den Pflegerkittel am Eingang zum Bad. Eine zerdrückte Packung mit Zelluphanfetzen als Mantel präsentierte sich als Ruine eines einstigen Raucherparadieses, einige trostlos wirkende Tabakkrümel bewohnen noch die Ritzen, stumme Zeugen der Zigarettenausrottungskampagne vergangener Nacht. Als Dockarbeiterazubi wäre das eine glatte Nullbenotung im Bereich Lagerhaltung. Für Girnek ist es einfach nur ärgerlich. Seine Hände fummeln tiefer in den Taschen unterwegs zur Entdeckung seines PTT-Sticks. Im Hausflursektor GH-2 steht eine stattliche Batterie Bistroautomaten – Erfrischungsgetränke, Vita-Pops, TK-Burger, Zigaretten, Standardmedikamente. Für jeden etwas. Seit die Stabilität des Systemrates der Eta-Republik ins Wanken geraten war, waren einige Verordnungen gestrichen oder gelockert worden, politische Degeneration verschluckt bekanntermaßen oft Paragraphen, so konnte man seit zwei Monaten sogar Antidepressiva aus den Docmaten ziehen. Egal. Girnek konnte auf der Station besseres Material einstecken. Diazepham, in der Szene bekannt als Stadas, ein gewisser Vorrat war nie schlecht. Konnte man gut eintauschen gegen Uppers, die waren sonst so unfreundlich zum PTT-Stick.

Da ist das Ding. Zeigefingerlang, Titan mit roten Plastikeinlagen in Form des Banklogos. Einer von den ganz neuen, die einen Zungenscan ausführen und mit einem gespeicherten Abbild der Geschmacksknospenkraterlandschaft des Stickbesitzers vergleichen. Momentan noch absolut fälschungssicher, so was hielt sich aber selten lange. Und bei manchem sieht es auch durchaus unappetlich aus, wenn er sich den Metallstick in den Mund stopft um seine Autentizitätsprüfung auszuführen.
„Identifikation positiv!“ piepste der Creditstab leise, worauf ein Druck auf den Abfrageknopf folgte, wodurch das Aufblinken einer kleinen grünen Zahl im Minidisplay des Stiftes verursacht wurde. Blink – 3,71 Credits – blink – 3,71 Credits – aus.
Gerade ausreichend für die Fluppen, zum Glück! Der gang zum nächsten Ladeschalter wäre an diesem Morgen unmöglich gewesen, zwar musste man nur das Haus verlassen und die Leitstraße überqueren, aber Girnek hatte wahrlich keine Lust sich momentan unter Menschen zu begeben. Träge warf er den Pflegerkittel über, schlüpfte in eine schon mehrmals getragene Hose und stiefelte los.

Aufgrund ausschweifendem gedanklichem Umzug hier Nachsendung einiger medizinischer Details betreffend den Besuch im Bad:
gastroenterologische Eruption, gastroenterologische Eruption, oraler Vulkanausbruch. Plus typische Begleiterscheinungen.
Dies nur als kleine medizinische Fachsimpelei um die Zeit des Zigarettenholens zu überbrücken.

Kaum war die Wohnungstür ins Schloß gefallen, brannte auch schon die erste Zigarette - auf den Fluren nämlich war das Rauchen verboten und die waren Kameras überwacht, um Überfällen vorzubeugen – Girnek sank seufzend mit dem Rücken an die Tür und nahm mehrere tiefe Züge. Mit Kippe auf Halbzeit begab er sich zurück in die Küche, fand dort alles so vor wie beim Verlassen vor Minuten, natürlich! Doktor Tellerrand konnte schließlich nicht weglaufen.
„Schön, dass Sie auf mich gewartet haben. Auch eine Zigarette? Nein? Na gut.“
Die Teller-Besteck-Konstruktion offenbarte im Folgenden ihre Multifunktionalität, auf den ersten Blick unspektakuläres Geschirr hatte Sie sich als perfekter Gesprächspartner entpuppt und diente jetzt zusätzlich als Aschenbecher.
„Während Lacour fast krampfhaft versuchte Informationen über die Vergangenheit des Patienten zu organisieren, haben wir Pfleger die erste psychologisch orientierte Versuchsreihe gestartet, ganz dem exakten Plan des Professors. Während der künstlichen Ernährung am Mittwoch wurde ein leichtes Stimulanz zugeführt, morgens und am Abend, dazu strenge Überwachung, desgleichen am Donnerstag wieder und seitdem jeden Tag. Bisher können wir jedoch nur festhalten, dass seine Aktivitätsphasen dadurch relativ konstant wurden, er regt sich jetzt nahezu täglich, dabei blieb es aber bis auf den Vorfall am Freitag immer bei einigen wirren Bewegungen, wie ein kurzer Spuk – und wieder gespenstische Regungslosigkeit. Eine Steigerung der Reaktion auf Kontaktierungsversuche allerdings ist nicht zu verzeichnen.“

Die zweite Zigarette erglühte leise knisternd. Girnek zitterte nervös, unruhig, am Liebsten hätte er jetzt zwei gleichzeitig geraucht.
„Freitag. Der Vorfall etwa vierzig Minuten nach Phase zwei der ersten Versuchsreihe. Eine unheimliche Geschichte. Hat sogar dem Härtesten von uns Angst vor 4807 eingejagt. Nach Plan habe ich MitraZed, das ist ein die Gehirnaktivität förderndes Mittel, zusätzlich zu dem Körperstimulanz der letzten Tage verabreicht, danach saß ich mit Lacour in der Supervision, eventuelle Reaktion abwarten. Sehen Sie, wie nervös ich bin?“
Zum Beweis hielt er seine Hand mitsamt Kippe über die Kaffeetasse, und wahrlich, das Bild hätte jeden an einen Rentner mit Parkinson erinnert, ohne Zweifel.

„Ich habe das Gefühl, der Wahnsinn von 4807 färbe auf mich ab, sei übertragbar wie eine ansteckende Krankheit. Verflucht aber auch! Auf jeden Fall haben wir gewartet, wie gesagt, über eine halbe Stunde. Schließlich begann der Horrorstreifen. Der Patient stand unverhofft auf und begann auf der Stelle zu treten, langsam, als wolle er leise sein, kurz später drehte er sich zur Seite, nahm eine Haltung an, als würde er durch ein Fenster etwas beobachten, dabei stand er mitten in der leeren Zelle! Der Prof war total aufgeregt. Wie spannend sagte er, spannend! Gespenstig nenne ich so was! Nach vielleicht einer Minute beginnt er wieder zu gehen, jetzt in Richtung seines nicht vorhandenen Beobachtungsobjektes, setzt sich nach ein paar Schritten hin. So saß er einige Zeit, sich gebärdend als säße jemand neben ihm, flüsterte. Leider zu leise für unsere Überwachungsgeräte. Vielleicht auch gut so, vielleicht will ich überhaupt nicht wissen, was Nemain da sagte. Und plötzlich, wahrscheinlich werde ich das nie vergessen, springt 4807 auf und beginnt gequält zu schreien. Nein! Jamila! Nicht gehen! – Wer zum Teufel ist Jamila, denk ich noch, und höre: Lass mich nicht allein! Dabei blickte der Kerl hektisch alle Wände an und zitterte noch schlimmer als ich jetzt. Da läuft er los, wie ein geprügelter Hund! Senkt den Kopf und donnert mit Absicht an die Wand. Brüllt: raus aus meinem Kopf! Und nimmt noch mal Anlauf. Immer wieder mit dem Kopf an die Wand, plärrt einen mir unvergesslich gewordenen Satz dazu. Ich will vergessen! Beides immer wieder, sicher fünfzehn Male! Bis die von uns um ihn zu sedieren losgeschickten Pfleger in der Zelle ankamen, hatte er sich schon selbst bewusstlos gehämmert. An einer Polsterzellenwand! Das muß man sich vorstellen! Das ist unmöglich! Das ist doch pervers! Scheisse, in der Nacht danach habe ich davon geträumt. Ich will vergessen! Der Satz will mich nicht loslassen. Paradox, denn genau das Eintreten der darin enthaltenen Aussage wünsche ich mir…“

Noch immer zitternd und schwer atmend bewegte sich Girnek Richtung Kühlschrank, wühlte und fand. Kehrte mit den Fundsachen zu seinem Platz zurück und begann mit dem rechten Bein von Doktor Tellerrand eine Scheibe Toast mit Butter zu beschmieren, während er wieder dazu anhob, sich all seine Sorgen und Ängste vom Leib zu reden. Der Kaffeebecherkopf, in der Pflegerphantasie zur Person erhoben, antwortete nicht, aber er hörte zu. Und das war derzeit das einzig Wichtige.

upic
Kontakt: http://www.carpepagina.com ICQ : 0
  • Kapitel XIII: Neun Tage und der Morgen danachEmoAlien - Nemain Naraikina - 16.02.2004 14:43:23
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