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es war einmal...

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Nemain Naraikina schrieb am 25-01-2006 18:42:10 : Auferstehung von Erinnerungsleichen - Retrospektive I
Es war dunkel. Es war einfach nur dunkel. Das weite All… schwere zähflüssige Finsternis. Wo ist das Leuchten Sonnenlicht reflektierender Atmosphären der vielen Planeten, wo ist das Glitzern der unzähligen Sterne?

Weit außerhalb von Nemain`s Realität. Irgendwo da draußen. Keinesfalls greifbar – vielleicht gerade einmal am Horizont zu erahnen, bevor es alles wieder für ewige Zeiten aus dem Blickfeld entgleitet in die Scheinwelt außerhalb seines Bewusstseins, abgegrenzt wie eine scharfe Linie, durch eine ganz bestimmte Nachricht induziert.

Er würde Sie nie wieder sehen. Er wusste nicht eine Winzigkeit davon, was passiert war.

Er wusste nur, daß es passiert war. Kiriin war tot.

Irgendwie schienen alle Farben um ihn herum in einem um sich greifenden Grauschleier zu versinken.

Wer bin ich überhaupt?

Ich habe meine Identität verloren. Das, was mich auszeichnete, was mich von anderen abgrenzte, die Form und der Inhalt meiner Individualität
- war die Liebe zu Kiriin und die enthusiastische Hingabe an Auseinandersetzungen, welche schon lange ausgefochten sind, oder im Staub zwischen den Sternen versickert.

Ich bin Niemand. Ein Relikt aus vergangenen Zeiten, nutzlos geworden, ausrangiert.

Manchmal wäre es besser, den Schleier der Einbildung und Illusion nicht von der nackten Realität herunterzuziehen, manch einer würde ihn besser lassen, wo er ist, sich kontinuierlich selbst belügend zwar, aber weiterhin glücklich existierend.

Leider hatte ich keine Wahl. Ich hätte mich dem Zwang Kiriin zu suchen nicht widersetzen können, das Ergebnis meines Strebens allerdings, war das Erkennen einer mein Bewusstsein erdrückenden Realität. Das endgültige Absinken in den Treibsand des Schicksals. Aus und vorbei.

Zweimal schon in meinem Leben habe ich es geschafft, mich aus tiefster Depression wieder zu erheben, wieder mit Stolz und Würde meinen Weg zu gehen. Jetzt bin ich ausgebrannt. Ich entdecke zum ersten Mal die kleinen Falten um meine von tiefen Ringen gesäumten Augen, ich fühle mich verzehrt, fast aufgefressen von den Ereignissen meines Lebens und trotz meiner Jugend empfinde ich ein hohes Alter in meinem Herzen, meine Haut wirkt leblos und grau, wenn ich den Spiegel nach meinem Zustand befrage.

Dieser Absturz ist mein letzter. Ich glaube es nicht – ich weiß es.
Keine Kraft mehr, um aufzustehen, keine Energie, um sich gegen den erdrückenden Ansturm von Melancholie und Verzweiflung zu stemmen. Da ist nur noch Leere in mir drin, nichts mehr, das ein Gesicht hat, niemand, dem ich die Schuld geben kann. Nur noch ein vertrockneter kleiner Rest meiner ausgedörrten Existenz, gefangen in einem Grab aus kraftlosem Fleisch.

Mit offenen Augen nehme ich meinen derzeitigen Zustand quälend klar wahr. Wenn ich die Augen schließe, foltern mich Bilder meines Selbst aus meiner glücklichen Vergangenheit, Erinnerungsfetzen dessen, was einmal war. Und während ich schlafe, verfolgen mich Alpträume gefüllt mit Schmerzen und den Schreien meiner Geliebten. Was könnte ich tun? Es gibt keinen Ort, keinen Zustand, der mir auch nur das geringste positive Gefühl vermitteln wollte.

Mir ist kalt. Wo ich auch gehe und stehe, mir ist kalt. Fast so, als wäre ich nicht mehr in der Lage etwas anderes zu empfinden, etwas anderes als diese gnadenlose Kälte. Ich möchte sterben, allein schon um diese letzte nutzlose Empfindung loszuwerden. Aber selbst um meinen Tod herbeizuführen bin ich zu schwach.

Ich habe diese Pistole. Ein altes Modell, Projektilgeschosse. Ihr Mündungsfeuer sollte mein warmes strahlendes Licht am Ende des finsteren Tunnels werden. Aber bereits während ich durchlade weiß ich, dass ich nicht abdrücken werde, nicht abdrücken kann. Irgendetwas in meinem Kopf scheint mir zu befehlen weiter zu existieren, weiter zu leben um weiter zu leiden.

Ich bin ein Feigling.

Es ist eine alte Angst. Ich kenne Sie aus meiner Vergangenheit, von damals, noch bevor ich Jamila kennengelernt hatte. Die Furcht, das eigene Fleisch zu verletzen. Dieser innere Instinkt irgendwo tief in mir drinnen am Leben zu bleiben, ganz gleich wie miserabel mein mentaler Zustand auch sein mag, gleich wie zerfetzt meine Psyche zwischen den Windungen meines Gehirns hängt.

Diese Angst ist ein zweischneidiges Schwert. Vor wenigen Jahren noch war Sie mein Antrieb den Rebellen beizutreten, ließ mich den Kampf aufnehmen gegen die großen Gesellschaften, ließ mich zum Verteidiger der Unterdrückten werden. Aber ein Held war ich nie. Vielleicht habe ich manches Mal so getan. Gegenüber der Öffentlichkeit und den Gesellschaften sowieso. Mich nach außen gegeben, als kämpfe ich aus Überzeugung. Aus Überzeugung für jene, welche ein ähnlich hartes Schicksal litten wie ich während meiner ganzen Jugend. In Wirklichkeit kämpfte ich jedoch einzig wegen der Hoffnung, eines Tages von den Attackierten getötet zu werden, im aussichtslosen Kampf gegen die Übermacht der Gesellschaften zu fallen. Ich wollte andere das tun lassen, was ich nie gewagt hatte. Ja, sie sollten mich töten, denn ich fürchtete mich davor. Deshalb zerstörte ich ihre Handelsstationen, deshalb tötete ich ihre Angestellten und Händler… und deren Familien. Ich wollte, daß sie mich hassen. Ihr Hass sollte mich verbrennen. Aber die Wasser meines kalten depressiven Geistes ertränkten ihren Zorn und ihre Kinder, trieben einige meiner Kampfgefährten auf einer von mir geplanten Mission in den Tod, ließen mich jedoch stetig durch eine Woge der Verzweiflung von der Rasierklinge spülen.

In Jamila fand ich während meiner Zeit bei den Rebellen eine Gefährtin im Geiste, eine Person mit der gleichen Empfindung, mit den gleichen verzerrten Träumen, mit dem gleichen zerkratzten Schicksal. Mit genau einem einzigen Antrieb und Ziel, dem meinigen identisch. Von ihr lernte ich, was es bedeutet einen Menschen zu brauchen, zu spüren wenn dir jemand fehlt, nur weil er ein paar Lichtmeilen entfernt war. Zum ersten Mal seit über zehn Jahren wurde ich gewahr, daß mein Verstand auch so etwas wie Zuneigung kannte.

Sie ist tot. Sie hat ihren Frieden gefunden. Am Ende fiel es mir schwer es zu überwinden, zu akzeptieren, mich für Sie zu freuen. Zu eng war Jamila in meine Realität gewachsen, zuviel Verantwortungsgefühl für Sie hatte meine mentale Finsternis überlagert wie ein grellweißes Leichentuch aus Wolken. Alles endete in einem tiefen Sturz. Wohl war ich mittlerweile dermaßen in das Netz der Widerstandskämpfer eingebunden, daß ich gar nicht absolut in der endlosen Tiefe versinken konnte, die Zeit aber mit Jamila hatte mir eine Illusion von glücklicher Existenz erschaffen, mit ihrem Jäger „Misplaced Childhood“ vor Kobetin und ihr selbst zerbarst diese letztendlich vor meinen Augen in Myriaden von Scherben und Trümmern aus Stahl.

Happy Lifes? Sorry Sir, sold out!

Also aus irgendeiner verdrehten Sichtweise heraus hat diese Angst auch einmal etwas Positives bewirkt, hat mich mit Jamila verschweißt, einen Hauch von Glück aus ihrer heimatlichen Finsternis für mich herausgepreßt, zumindest für eine gewisse Zeit. Es war ein Köder, ein Mittel zum Zweck, um mich nur noch tiefer und fester in ihren Fängen zu verstricken. Heute weiß ich, Sie wird mich niemals mehr loslassen, Jamila sollte nicht das letzte Mal sein, daß ich mich von ihr verführen ließ, blind in das von ihr projezierte Licht wankte, die wahre Realität erst differenzieren konnte, nachdem es bereits zu spät war. Mein gebrochenes Herz hat ihr nicht ausgereicht, vielleicht ist Sie heute zufrieden, da Sie meine Seele endlich gebrochen hat?

Ich schlage meine Augen auf. Über mir ist alles Weiß. Ich kann nur ahnen, wann ich mein Bewusstsein verloren habe. Grelles, absolut reines Weiß. Ich erinnere mich nicht, wo genau ich mein Bewusstsein verloren habe. Ein nicht greifbares Weiß. Ich kann nicht sagen, was ich in der Zeit davor getan habe. Überall diffuses Weiß. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich hierher gekommen bin. Neutrales, nichts sagendes Weiß. Wie soll ich da wissen, wo ich jetzt bin? Da ist ein gelber Punkt, mitten in dem strahlenden Weiß. In meinem der Ohnmacht nahen, halb dämmrigen Zustand erscheint er mir wie die strahlende Sonne des Miras, in Wahrheit ist es wahrscheinlich eine ordinäre Deckenlampe, mit Sicherheit nicht einmal in einem originellen Design. Es riecht sauber, nein, desinfiziert, unnahbar – ja! Klinisch rein. Meine Gedanken werden klarer, ich bemerke, daß ich alle Empfindungen im gleichen Augenblick bereits vergessen habe, in dem ich sie überhaupt spüre. Die Erkenntnis dieser Situation verbessert meinen mentalen Zustand enorm. Man hat mich auf beiden Unterarmen fixiert, die Finger, die Hände, die Handgelenke pochen, schreien ihren Schmerz durch meinen Körper, bis tief in meine gerade zurück gewonnene Wahrnehmung, quengeln wie kleine Kinder, die beachtet werden wollen. Ich kann jetzt klar die Deckenlampe ausmachen, ein wirkliches hässliches Ding. Von dieser Sorte strahlen wohl fünftausend Stück ihren blaßgelben Glanz in die Gänge und Räume des Gebäudes, unter manchen liegen stumme Zeugen der menschlichen Vergänglichkeit, angeschlossen an leise zischend pumpende Beatmungsgeräte und externe künstliche Organe, unter anderen schwirren zahlreich diskutierende Menschen in der Blüte ihres Lebens. Das einzige, das sie alle an diesem Ort verbindet, ist das alles beherrschende Weiß, an der Decke, an den Wänden, sogar ihre Kleidung spiegelt ein feinstes Weiß. Typisches und nur hier so weißes Weiß in steriler Perfektion. Krankenstation. Parkplatz für familienlose Personen über hundert Jahre mit guter Versicherung.

Die Bettdecke ist auch weiß, ich kann jetzt meinen Kopf heben. Auch meine Beine sind fixiert worden, das registriere ich erst jetzt, vorher existierten sie nur aus meiner festen Überzeugung, sie müssten da sein. Meine Unterarme sind komplett bis auf den Daumenballen mit Verband umwickelt. Ich muß lachen, ich kann es nicht verhindern, und ich kann mich plötzlich erinnern. Alle großen Ereignisse der letzten Jahre habe ich gesehen, als ich in den Spiegel geschaut habe, mit bloßen Händen habe ich sie verwandelt in Splitter und Scherben, wollte meine Pulsadern öffnen mit einem von den großen spiegelglitzernden Bruchstücken. Natürlich habe ich es nicht gewagt, hätte es gar nicht effektiv tun können, so zitterte ich dabei, habe es mir nur vorgegaukelt. Ich lache immer noch. Ich habe mir selbst vorgelogen, ich würde mich umbringen. Die Erinnerung endet mit dem traurigen Bild eines weinenden und schwer blutenden jungen Piraten auf dem Boden, kriechend über einen der vielen Gänge der Station Monrovia. Eine Tragödie, bei welcher der Vorhang kurz vor dem Schluß gefallen ist.

Echte Tragödien beginnen doch immer mit dem Schauspiel einer heilen und glücklichen Welt, nicht wahr? Der erste Vorhang: Mirassystem, Streifzüge zwischen Moetheus, Bepinus und Oya Bonida. Dort habe ich Sie kennengelernt, oft ihrem Schiff aufgelauert. Die Kolibri. Kiriin. Sie war eine der Besten. Vielversprechende Beute, wenn man sich geschickt genug anstellte, Sie zu erwischen. Ich war oft genug an Board, um Sie so persönlich zu kennen, wie ein Pirat eben einem Opfer maximal nahe stehen kann. Irgendwann erkannte ich Sie als meinen leuchtenden Stern in der Galaxis, konnte diese Empfindung aber nur noch nebelhaft in meiner Erinnerung fassen. Dennoch flog ich fast jede Nacht durch das halbe System, allein um Sie zwischen den Sternen aufzuspüren. Ich wusste, Sie würde sich nie mit dem Lebensstil eines Piraten anfreunden können, aber ich konnte nicht anders, als mir die Finger an ihr zu verbrennen, Sie hatte mich bereits mit ihrem Lächeln verzaubert…

Ich kann hier nicht bleiben. Spätestens zwölf Stunden nach meiner Einlieferung wird das Personal festgestellt haben, daß ich in keiner öffentlichen Datenbank der Galaxis erfasst wurde, maximal zehn Stunden danach wissen sie, wer ich bin. Endstation Hochsicherheitstrakt, ein mindestens fünfzig jähriges mentales Martyrium auf acht Quadratmeter, eingepfercht auf so engem Raum würde wahrscheinlich ein Bruchteil meiner vor Agonie triefenden Empfindung ausreichen, um mich in Wahnsinn zu ersticken. Der optimal schlechteste Ausgang für meine momentane Situation, der so genannte „worst case“. Und ich kann verdammt noch mal nicht einschätzen, wie lange ich schon hier bin. Das bohrende Hungergefühl in meinen Eingeweiden, welches ich auf meiner Suche nach Anhaltspunkten für diese Einschätzung vorfinde, ist mir absolut keine Hilfe. Ich kann nicht sagen, wann ich das letzte Essen hatte, ich befürchte sogar zu vergessen, was überhaupt die Bedeutung des Wortes Appetit ist. Also keine Zeit zu verlieren. Cera Miseri, Bildfetzen. In Gestalt eines antiken Presslufthammers hämmert sich meine Depression durch meine Gedanken zurück in mein Bewusstsein, nimmt majestätisch Platz auf ihrem Thron als Beherrscherin meines Gehirns. Kiriin. Die Erinnerungen an den wundervollen Urlaub mit ihr im Hades durchschneiden meine Seele wie Butter, ein Kuß, ein Lächeln, eine Berührung, damals alle Überbringer von nie gekanntem Glück, heute schärfer und schmerzhafter als jedes Messer, wissend diese Empfindungen für immer verloren zu haben.

Ich kann nicht einfach aufstehen, ich erinnere mich vor Minuten bereits festgestellt zu haben, auf den Unterarmen fixiert worden zu sein. Überraschend schnell ist mein Verstand in den letzten Minuten aus seinem sedierten Zustand ausgebrochen, ich denke jetzt wieder gewohnt scharf und klar. Zumindest bin ich fest überzeugt, mich in dieser Verfassung zu befinden. Sobald ich hier weg bin, muß ich mein Schiff klarmachen und ersteinmal untertauchen, eine Großfahndung in den Raumsektoren um Oya Bonida ist eine sichere Folge, nachdem festgestellt wurde, wer den Behörden aus diesem Krankenbett entkommen ist.

Moment, lässt meine Alpträume induzierende Melancholie etwa freiwillig Raum für andere Planungen? Bilder von Ruatha Hold, ein Faustschlag mitten in das Gesicht meiner Wahrnehmung, gekonnt bringt mich die kalte Herrscherin meines Geistes dazu, ihr wieder den nötigen Respekt zu zollen. Verstehe. Freiraum für andere Gedanken gleich Mittel zum Zweck. Wir wollen beide hier weg. Dies ist ein Ort der Heilung, geschaffen zur Rückgewinnung von Gesundheit und Lebensfreude, ersteres widerspricht meiner Intention, zweiteres total der ihrigen, wir sind uns also problemlos einig: aufstehen und raus! Bleibt noch das Problem mit der Fixierung.

Ich bin gut darin, im miserabelsten mentalen und emotionalen Dreck einen versteckten Funken Positives zu entdecken. Bedingt durch meinen dilettantischen und so kläglich fehlgeschlagenen Selbstmordversuch sind meine Unterarme derart schwer verletzt, dass die Gummibänder zur Fixierung der Arme ungewöhnlich weit oben angebracht werden mussten, hätte man mich direkt an den Handgelenken gefesselt, wäre ein Fluchtversuch pure Utopie, allein der Gedanke daran nichts anderes als sinnentleerte Zeitverschwendung. Meine Gedanken focussieren sich auf das Entfernen der Armfixierung. Hände zu Fäusten ballen, Unterarmmuskulatur anspannen. Ruckartig ziehe ich die Arme nach oben und drücke die Schulterblätter zusammen, zumindest soweit die menschliche Anatomie das zulässt. Ein brennender Blitz geformt aus als Reaktion des Zusammentreffens von Fixierband und Wunden aufflammenden Schmerzen rast meine beiden Arme hinauf, als gelte es einen Sprintwettbewerb zu gewinnen und frisst sich über meine Schultern vor bis in den Torso. Das Gummiband allerdings hält anscheinend nichts von Bewegung, bombenfest sitzt es noch immer an exakt der gleichen Position wie seit Stunden, daß es sich durch die Anspannung der Muskeln auch nur einen Millimeter dehnen würde, stellt sich jetzt ebenfalls als Einbildung heraus, nennen wir es Wunschdenken. Soweit die Umstände, welche mein Bewusstsein registriert hat und nun mit einer widerwilligen unbefriedigten Aktzeptanz bebildert. Die mir ureigenen Instinkte zeigen sich nicht so einsichtig, wollen sich nicht beeinflussen lassen von der Tatsache der erfolglosen Befreiungsaktion. Ich verliere die Kontrolle. Mit dem Schmerz als Bündnispartner übernehmen Instinkte namens Überlebenswille und Freiheitshunger das Kommando über Muskeln, Sehnen und Nervenbahnen. Ich werde zum handlungsunfähigen Beobachter, kann nur zusehen, was sie meinen Körper tun lassen. Muskeln zucken, verkrampfen, mein Oberkörper bäumt sich auf, gerade als wäre ein Teil des Krankenbettes ein reißender Strom, überspannt meine Wirbelsäule die Matraze in einem abnormen Bogenschlag, während zappelnde Arme wieder und wieder an ihren Fesseln zerren. Ich spüre wie letzte Kraftreserven mobilisiert werden und die Brücke aus Fleisch und Knochen stürzt in den Fluß. Ein unkontrollierbares Zittern in Armen und Beinen signalisiert meinem Bewusstsein das Ende aller Energie, gleich einem an Land gezogenen Fisch schnappen meine Lungen panisch nach Luft.

Ein neuer Geruch drängt sich zwischen Schweiß und klinisches Desinfektionsaroma: Eisen. Eigentlich ein Symbol für Gitterstäbe und damit für Gefangenschaft, in der momentanen Situation aber ein Vorbote der Freiheit. Das wirre, aber beständige Zerren an den Fixierfesseln hat die Wunden an meinen Unterarmen aufreissen lassen, ein Schwall aus Blut drückt sich unter den Verbänden hervor ins Krankenzimmerlicht, bildet deplaziert wirkende Flecken aus kräftigem Rot auf dem seidigen Weiß von Decke und Matraze. Die Gummibänder zur Fixierung gleiten über die blutgetränkten feuchtglitzernden Verbände, analog zur Bewegung einer gut geölten Maschine. Blut ist Freiheit. Ein Platzregen aus Serotonin und Adrenalin ergießt sich in mein Gehirn, verhindert einen von Schmerzen und Kraftlosigkeit provozierten Ohnmachtsanfall, inszeniert gleichzeitig einen Putsch gegen meine Instinkte und beruft mein Ego wieder zum Herrscher über mein Handeln. Meine erste Amtshandlung: Aufstehen und Fußfesseln lösen. Das jämmerliche Abziehbild einer Person erhebt sich vom schweißnassen Laken, wankt mit unsicherem Schritt Richtung Zimmertür.

Die Türklinke nur noch wenige Zentimeter außerhalb meiner Reichweite wird mein Blick gestoppt von einem kleinen fahrbaren Tisch, Ablage für das typische graue Tablett zum Servieren der Patientenmahlzeiten. Nicht näher zu klassifizierende Nahrungsmittel mit Klarsichtfolienüberzug, daneben ein abgenutzter Becher, eine Edelstahlkanne mit Schraubverschluß, Teebeutel. In der Stille des Zimmers ist nichts zu hören außer meinem flachen Atem und dem unregelmäßigen plätschernden Laut, wenn sich abstürzende Bluttropfen mit dem Zimmerboden vereinigen. Eine Erinnerungsexplosion überflutet meinen Geist, nur noch am Rande meiner Wahrnehmung registriere ich, wie ich das Zimmer verlasse, bevor ich ganz in der Flut der Bilder versinke, darauf vertrauend, dass mein Unterbewusstsein sich allein den Weg aus der Krankenstation bahnen wird.
Becher und Teebeutel. Jasmintee…

Ich hatte beobachtet, wie sich ihr Zustand täglich verschlimmerte. Irgendwelche Probleme mussten Einzug in ihr Leben gehalten haben, man konnte sehen, dass ihre Augen Tag um Tag stumpfer wurden, ihr Glanz von Sorgen langsam aufgezehrt. Ihre Umgebung schien ihr immer gleichgültiger zu werden, Sie regte sich nicht einmal mehr auf, wenn ich Sie schon wieder durch eine Kaperung um ein paar tausend Credits erleichterte. Ich sah meine Rose verwelken, und das konnte ich nicht zulassen. Also habe ich Sie zur Rede gestellt, habe Sie gezwungen, ihre Sorgen mit mir zu teilen. Während dieses Gesprächs hatte ich auch zum ersten Mal Kontakt mit ihrer großen Passion, Tee trinken. Jasmintee, den Sie sogar selbst züchtete. Und trotz der tausend Gegensätze spürten wir beide das Feuer der Liebe zwischen uns aufflammen. Sicher, es war nicht leicht für einen Piraten und eine Raumhändlerin sich zu arrangieren, stetig kollidierten unsere Weltanschauungen, doch Zuneigung und Sympathie ließen all diese Auseinandersetzungen kurz nach ihrem Auftreten wieder in der Bedeutungslosigkeit versinken. Während einem Urlaub auf Cera Miseri im Hadessystem habe ich den Glanz in Kiriin`s Augen restauriert, der Eintritt in ein neues Leben für uns beide, ein Leben im Licht. Alles sollte sich ändern. Wir beide ließen unsere von Depression schwangere Vergangenheit zu großen Teilen hinter uns, Kiriin übernahm die Leitung einer neuen Handelsstation an der Passage zwischen Hades- und Gra`elsystem, nur selten noch pflegten wir Kontakt zum heimatlichen Miras, wo wir problembeladene Erinnerungen zurückgelassen hatten. Die Wochen auf der Station Jasmingarten mit ihr waren die glücklichste Zeit meines Lebens, das Lächeln meiner Geliebten war Heilmittel für meine Seele, ihre Berührung der Sinn meines Seins, sozusagen der Zenit einer positiven Existenz.

Meine Depression schien von Kiriin`s Tränen der Freude fortgewaschen und zwischen den Sternen des Miras beerdigt. Aber manche Tote finden niemals Ruhe. Und so streckten sich die kalten Finger des Schicksals aus meiner Vergangenheit bis ins Gra`el, griffen nach mir, um unser Glück zu erwürgen. Bis heute weiß ich nicht, aus welchem Grund ich dem Ruf der Rebellen wieder gefolgt bin. Vielleicht, weil meine Todessehnsucht noch immer nicht ganz besiegt war, lebendig begraben nur, vielleicht auch, weil ich – endlich von der Dunkelheit befreit – Mitleid mit meinen alten Kumpanen verspürte, sie nicht in der von mir genährten Tragödie zurücklassen wollte. Personen, die miteinander gelitten haben, scheinen danach auf magische Weise verbunden. Kiriin hatte kein Verständnis dafür. Sie ahnte vorraus, dass mein erneutes Eingreifen in die Kämpfe der Rebellen unser junges Glück zerbrechen würde, Sie wusste ich war noch nicht stark genug, um dem Sog des Unheils zu widerstehen. Ich war so blind, so taub, so dumm. Ich habe Kiriin nach einem Streit zurückgelassen, bin dem Ruf der Rebellen gefolgt. Natürlich war für mich von Anfang an klar, ich würde sobald irgend möglich zurückkehren, vom Krieg in den eisigen Weiten des Weltraums heim in den warmen Schoß der Geliebten. Doch bis ich durch den Strom aus Aufstand, Aggression und Blut geschwommen war, war es bereits zu spät. Ich selbst habe unsere Liebe in diesem Fluß ertränkt. Kiriin war vor der Enttäuschung geflohen und hatte sich in dem Versuch ihr gebrochenes Herz zu heilen irgendwo im Nirgendwo versteckt.

Ich setzte alles daran, sie zu suchen, aufzuspüren, recherchierte in schlaflosen Nächten und durchflog blind die Systeme zur Systemtagzeit. Tage, Wochen, Monate. Vergeblich. Und heute habe ich schon seit Tagen Gewißheit. Selbst wenn ich bei wachem Verstand und dazu in der Lage gewesen wäre, ich hätte die Tage, seit ich es erfahren habe, nicht gezählt. Tempus fugit. Und der Zeitpunkt ist auch nicht wichtig. Die Umstände sind nicht wichtig.

Einzig bedeutend ist, DAS es geschehen ist. Kiriin ist tot.

Meine Existenz mündet abrupt in einer tief greifenden Sinnlosigkeit. Der lange Sturz nach dem strahlenden Aufstieg des Ikarus. Ein letzter endgültiger Sturz. Es ist dunkel. Es ist einfach nur dunkel…

Ich weiß nicht wo ich bin, ich befinde mich in einem halbdunklen Zimmer mit wahrscheinlich blauer Wandverkleidung, ein Spalt zwischen den schweren Fenstervorhängen zu meiner Rechten zeigt einen Ausblick auf einen Stadtkomplex. Zumindest bin ich definitiv nicht mehr auf der Krankenstation der Raumstation Monrovia. Schäbige abgenutzte Einrichtung kombiniert mit einem Raum, der ausschließlich durch seine Winzigkeit glänzt, ich tippe auf ein billiges Zimmer in einem der großen Metroplexe auf Oya Bonida.

Und außer mir ist da noch eine andere Bewegung in dem Zimmer, ich bin nicht allein. Ich kann niemanden sehen, aber da ist jemand. Ich kann ihn nicht sehen, aber er ist da. Jetzt sehe ich einen Schatten, eine Bewegung auf mich zu. Woher die Person gekommen ist, kann ich mir nicht erklären. Sowieso unwichtig, er ist da. Stumm und hochgewachsen, im Halbdunkel nicht näher zu fassen. Er hat ein Messer. Möglicherweise ein Wrack von einem Junkie, der mich schon seit Betreten des Gebäudes beobachtet hat. Ich stehe regungslos. Was für ein passender Abgang für einen Bastard wie mich. Das erhobene Messer spiegelt den Glanz der Sonne in mein Gesicht, die einige ihrer Strahlen durch den Spalt zwischen den Vorhängen zwängt. Ich verteidige mich nicht. Wozu?

Aus welchem Grund sollte ich noch leben wollen?

Das Messer rast auf meine in Erwartung gelähmte Gestalt zu. Ich schlage meine Augen auf. Hektisch aus der Erwartungshaltung hervorbrechend untersuche ich ungläubig meinen ganzen Körper, blicke verwirrt in ein zum Großteil im Dunkeln liegendes Zimmer, sitze aufrecht in einem schäbigen Bett.

Ich habe geträumt, mich wolle jemand ermorden, was für ein angenehmer und befreiender Gedanke, was für ein hässliches Erwachen am Morgen danach…
upic
„Finstere Täler entstehen dort, wo unsere Gedanken sie erschaffen, wenn wir es zulassen, dass jene unsere Träume ersticken.“
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